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Die Linie - ein mathematisch-kultureller Rundgang Andere Geometrien |
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Der Begriff einer "Geraden" basiert zunächst auf ganz konkreten Dingen unserer physikalischen Umgebung: Seile, Fäden, Visierlinien, Grenzlinien, usw., d.h. auf der ganzen Palette von Erfahrungen, die wir in unserem kulturellen "Linien-Rundgang" beschreiben.
Beim formalen Arbeiten mit dem euklidischen Axiomensystem kann man sich -wenn man will- immer noch die Alltagsbilder von "Geraden unserer physischen Welt" vorstellen. Solche Vorstellungen werden etwa auch in der Volksschuldidaktik aufgebaut und gepflegt (man kann z.B. einige Gesetzmässigkeiten zwischen Geraden und Punkten durch lange, dünne Papierstreifen veranschaulichen). Auch ist jede Skizze eine "physische Veranschaulichung". Die Gesetze der Geometrie folgen jedoch rein formal aus dem Axiomensystem.
Nun ist eine weitere Abstraktionsstufe möglich: Man löst sich von den Alltags-Intuitionen der Grundgebilde, d.h. z.B. von der Alltags-Intuition einer Geraden und legt den Fokus aufs formale Operieren mit den Axiomen und den logischen Schlussregeln. Siehe auch: Hilberts Axiomensystem der euklidischen Geometrie |
Ein Beispiel (nach F.Gonseth: Le problème de la connaissance en philosophie ouverte, Verlag L'Age d'homme, Lausanne 1990, Hg. Eric Eméry, p.56): Ein gleichschenklig-rechtwinkliges Dreieck ABC im Gonseth-Modell der euklidischen Geometrie. Die Geraden sind Kreise durch F. Man erkennt, dass entsprechend den euklidischen Axiomen, denen das Modell genügt, die Winkelsumme 180° beträgt. Ein anderes Dreieck. Winkelsumme wiederum 180°. Der violette Kreis p1 stellt die eindeutig bestimmte "Parallele" zu AC durch den Punkt B dar: Kein Schnittpunkt (ausser F, der nicht zählt). Man sieht, dass entsprechend den euklidischen Gesetzen Wechselwinkel gleich gross sind. Bei B ergänzen sich die drei Winkel zu 180°. Da p1 eindeutig bestimmt ist, gilt das euklidische Parallelenaxiom: Zu einer Geraden AC gibt es durch einen ausserhalb von AC liegenden Punkt B genau eine Parallele. |
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Nun hat sich immer wieder die Frage gestellt, ob etwa das euklidische Parallelenaxiom, das postuliert, dass es zu einer gegebenen Geraden g durch einen Punkt ausserhalb von g genau eine Parallele gibt, ein Axiom sei oder ob dies aus den andern Axiomen hergeleitet werden könne. Dabei hat man Geometrien entdeckt, welche alle Axiome der euklidischen Geometrie erfüllen - mit Ausnahme des Parallelenaxioms. Nach der Entdeckung der nicht-euklidischen Geometrien hat man viele weitere Geometrien entdeckt. Die Grundbegriffe (z.B. der Begriff der "Geraden") sind dabei neu interpretiert und decken sich nicht mehr mit unserem Alltagsbegriff einer Geraden. Im folgenden ist eine 9-Punkte-Geometrie aufgeführt, die mit 3 Axiomen formalisiert ist (eines davon ist das Parallelenaxiom): Eine Geometrie mit 9 Punkten
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Wir lösen uns vom anschaulichen Begriff einer Geraden. Eine "Gerade" soll einfach eine Verbindung zweier Punkte sein. Die 12 farbigen Gebilde links (3 rote, 3 blaue, 3 grüne, 3 gelbe) seien also die "Geraden" dieser 9-Punkte-Geometrie. Es gelten folgende Axiome: A1. Zu je zwei Punkten gibt es genau eine Verbindungsgerade. [Beispiel: A und F sind durch eine gebogene rote Linie verbunden.] A2. Zu jeder Geraden und jedem Punkt ausserhalb dieser Geraden gibt es genau eine Gerade, die mit der gegebenen Geraden keinen Punkt gemeinsam hat, d.h. genau eine "Parallele" (Parallelenaxiom). A3. Es gibt drei Punkte, die nicht auf einer Geraden liegen, d.h. es gibt mindestens ein Dreieck. [Beispiele von Dreiecken: ABE, ABF] Eine Struktur, welche obige Axiome 1- 3 erfüllt, heisst "affine Ebene". |
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Die endliche Geometrie im Bild oben hat 9 Punkte und 12 Verbindungslinien, die wir "Geraden" nennen. Jede Gerade besitzt 3 Punkte. Die Geraden sind also die farbigen Verbindungslinien zwischen zwei Punkten. Wir nennen also auch die gebogenen Verbindungen Geraden (z.B. FG). Durch jeden Punkt gehen vier Geraden (von jeder Farbe eine). Wie in der "gewöhnlichen", euklidschen Geometrie definieren wir, wann zwei Geraden parallel genannt werden sollen: Zwei Geraden heissen parallel, wenn sie entweder identisch sind oder wenn sie keinen Punkt gemeinsam haben. Welche Geraden im Bild oben sind demnach parallel? [Lösung: Genau die gleichfarbigen Geraden sind je unter sich parallel.] Frage: Welche Geraden dieser Geometrie könnten "senkrecht zueinander" genannt werden? |
Einführung von Koordinaten auf dieser Geometrie: Zahl: 0 1 2 3 4 5 6... Wir rechnen nur mit den Resten 0, 1 und 2. Es gilt z.B.: Eine Zahl mit Rest 2 plus eine Zahl mit Rest 1 ergibt eine Zahl mit Rest 0. Dies schreiben wir so: Wir können diese Dreierrestzahlen auch miteinander multiplizieren: Es gilt z.B. Hier die Operationen + und * in einer Additions- und einer Multiplikationstabelle: + 0 1 2 * 0 1 2 0 0 1 2 0 0 0 0 1 1 2 0 1 0 1 2 2 2 0 1 2 0 2 1 Da 2 + 2 = 1 ist, folgt: 2 ist die Hälfte von 1 oder 2 = 1/2. |
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Fortsetzung: Koordinaten in der 9-Punkte-Geometrie: Die Punkte haben folgende Koordinaten: Mittelpunkt zweier Punkte: Die Koordinaten des Mittelpunkts zweier Punkte sind der Durchschnitt der Koordinaten der Punkte. Beispiel: Mittelpunkt der Strecke AC: ((0 + 2)/2 | (0 + 0)/2) = (1 | 0) = Punkt B. Mittelpunkt der Strecke AB: ((0 + 1)/2 | ((0 + 0)/2) = (1/2 | 0) = (2 | 0) = C. In dieser seltsamen 9-Punkte-Geometrie ist der Mittelpunkt zweier Punkte stets der dritte Punkt auf der entsprechenden Geraden! Mit unserer gewöhnlichen "Intuition" von "Mitte" hat dies nichts mehr zu tun. Geradengleichungen: D eingesetzt: 1 = m*0 + q => q = 1 |
Senkrechte: Zwei Geraden sollen auch in dieser Geometrie senkrecht aufeinander stehen, wenn das Produkt ihrer Steigungen = -1 ist. -1 ist aber hier gleich 2. Zwei Geraden stehen somit senkrecht aufeinander, wenn ihre Steigungen das Produkt 2 haben. Zudem sollen die Geraden mit Steigung 0 senkrecht auf den Geraden mit Steigung unendlich sein. Rote Geraden: Steigung -1 = 2. Blaue Geraden: Steigung 1. Grüne Geraden: Steigung 0. Gelbe Geraden: Steigung unendlich. Die roten und die blauen Geraden stehen senkrecht aufeinander, ebenso die grünen und die gelben. |
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Einige "seltsame" Resultate der 9-Punkte-Geometrie:
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Siehe auch: Geometrie der Töne: projektive Ebenen |
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