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Die Linie - ein mathematisch-kultureller Rundgang

Mengen ohne Mass

   
 
   
 

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Normalerweise "wissen" wir, was wir unter dem "Mass" eines geometrischen Objekts verstehen: Bei Strecken ist das "Mass" die Länge, bei Polygonen oder Kreisfiguren die Fläche, bei Körpern das Volumen; Punkten schreiben wir das Mass 0 zu.

Unsere Vorstellung von einem Mass beinhaltet folgende Punkte:

  • Messen wir Teile einer Figur, so ist das Gesamtmass die Summe der Teilmasse. Die Teile dürfen sich dabei natürlich nicht überlappen, sondern müssen "lückenlos" aneinanderstossen und zusammen die ganze Figur ausmachen.
  • Verschieben oder drehen wir eine Figur, soll sich dabei das Mass nicht ändern.

Genügt das? Offenbar nicht: Ein einzelner Punkt (dargestellt durch eine einzige reelle Zahl oder durch eine Menge {x} mit einem Element) hat offenbar das Mass 0. Ein Abschnitt [a,b] von reellen Zahlen ist sicher die lückenlose Vereinigung ohne Überlappungen solcher Mengen mit einem Element. Die Summe und somit das Mass wäre dann immer noch 0. Andererseits kann man eine Strecke der Länge 1 aus unendlich vielen, immer kleiner werdenden Teilstrecken mit den Längen 1/2 + 1/4 + 1/8 + 1/16 + ... additiv zusammensetzen.

Solche Erwägungen führten die Mathematiker des 20. Jahrhunderts zu einer Art Forderung "mittlerer Stärke":

Jede abzählbare nicht überlappende Vereinigung von Teilmengen erzeugt als (unendliche) Summe das Gesamtmass. Da eine Strecke aus überabzählbar vielen Punkten besteht, gilt dort diese Additivität nicht. Wir dürfen eine Figur also auch in unendlich viele Teilstücke zerlegen; diese Teilstücke müssen einfach in eine abzählbare Reihenfolge gelegt werden können , d.h. man muss die Stücke der Reihe nach aufzählen können.

Nachdem Cantor sich mit seinen "unglaublichen" fraktalen Figuren beschäftigt hatte, stellte sich die Frage: Kann man jeder solchen Figur - oder noch allgemeiner: jeder Teilmenge von reellen Zahlen - ein Mass zuordnen oder gibt es Mengen "ohne Mass"?

Der Cantor-Staub hat offenbar -als Punktwolke- das Mass 0. Wie sieht es bei andern Mengen aus?

Hausdorff hat gezeigt, dass -wenn man obige Forderungen an ein Mass stellt- es Mengen ohne Mass gibt (d.h. Mengen, von denen man nicht einmal sagen kann, sie hätten Mass 0, geschweige denn ein Mass > 0).

 

Hausdorffs Konstruktion einer nicht-messbaren Menge

Hausdorff nimmt das reelle Intervall [0 , 1[ und biegt es zu einem Kreis mit Umfang 1 (Radius 1/ 2π). Dann wählt er einen beliebigen Startpunkt x auf der Kreislinie und ferner irgendeine irrationale Zahl . Wir wählen als Beispiel die irrationale Zahl √2/16. Wir nennen diese Zahl r. Hausdorff trägt nun von x aus auf beide Seiten den Bogen der Länge r ab und erhält so viele neue Punkte: im Uhrzeigersinn die Punkte x - r, x - 2r, x - 3r, usw., im Gegenuhrzeigersinn die Punkte x + r, x + 2r, x + 3r, usw.

Da r irrational ist, wird sich -und das ist der Clou- das Verfahren endlos fortsetzen: Nie wird ein bisher erreichter Punkt ein zweites Mal erreicht (denn sonst wäre r rational, eine Bruchzahl, gewesen). Es entstehen also unendlich viele Punkte (im Bild unten sind einige davon rot bezeichnet), die immer dichter zusammenliegen, eine Art "roter Staub".

Das sind jedoch längst nicht alle Punkte der Kreislinie. Hausdorff wählt nun irgendeinen noch nicht getroffenen Punkt: y (grün). Von y aus trägt er wieder beidseitig den Bogen r ab. Es entsteht ein unendlich feiner grüner Staub.

Dann wiederholt sich das Verfahren mit einem Punkt z (z.B. blau), usw.

Denkt man sich das Verfahren ins Unermessliche wiederholt, so hat man die ganze Kreislinie -zugegebenermassen auf etwas seltsame Art und Weise- in einen unendlich bunten Staub aufgeteilt.

 
 
 
 
 

Die Abb. rechts zeigt, wie Hausdorff nun weiter überlegt:

Zunächst sieht man oben die Kreispunkte farblich geordnet: die roten Punkte, ausgehend von x, die grünen, ausgehend von y, die blauen, ausgehend von z, usw. Alle Punkte zusammen erschöpfen die ganze Kreislinie.

In Abb. B ordnen sortieren wir nun diese Punkte vertikal: Wir fassen

{x, y, z, ...} zur Menge A(0) zusammen, {x+r, y+r, z+r, ...} zur Menge A(1), usw.

Wie unterscheiden sich die Mengen A(0), A(1), usw. voneinander? Sie sind eigentlich "fast identisch", A(1) ist die um das Kreislinienstück r im Gegenuhrzeigersinn verschobene Menge A(0). Die ganze Kreislinie ist nun unterteilt in lauter "gleiche", gegeneinander verschobene Mengen A(i).

Da die Mengen A(i) gegeneinander verschobene Kopien voneinander sind, müssen diese Mengen, sollten sie ein Mass besitzen, alle dasselbe Mass haben. Nennen wir dieses Mass -falls es existiert- μ.

Da nun die Mengen A(i) in eine abzählbare Reihenfolge gelegt werden können, sollte die unendliche Summe dieser "kleinen" Masse μ das Gesamtmass 1 der Kreislinie ergeben. Das kann aber offensichtlich nicht sein: Ist μ = 0, ergibt sich auch das Gesamtmass 0, ist μ > 0, ergibt sich ein unendlich grosses Gesamtmass.

Diese "unendlich bunten Staubmengen" A(i) haben somit überhaupt kein Mass (weder eines, das null ist, noch eines, das grösser als null ist).

Es gibt also nicht-messbare Mengen.

   
 
 
 
 

Bemerkung

Die Bildung der "vertikalen" Mengen A(i) (siehe Tabelle oben rechts) benötigt ein spezielles Axiom der Mengenlehre: das Auswahlaxiom. Dieses besagt -bezogen auf obige Tabelle-, dass man aus jeder "horizontalen", einfarbigen Menge ein Element auswählen kann und mit dieser Auswahl die "vertikalen", "bunten" Mengen A(i) bilden kann. Das Auswahlaxiom ist ein von den übrigen Axiomen der Mengenlehre unabhängiges Axiom (es folgt nicht aus den übrigen Axiomen). Es gibt Mengenlehren, die ohne dieses Auswahlaxiom konstruiert werden, ja sogar Mengenlehren, bei denen als Axiom ausdrücklich die Negation des Auswahlaxioms postuliert wird. Solche Mengenlehren ergeben einen veränderten Begriff einer Menge, und in ihnen ist obige Konstruktion von nicht messbaren Mengen A(i) nicht möglich. Es gibt -unter Weglassung des Auswahlaxioms- Mengenlehren, in denen jede zulässige Menge messbar ist, in denen Konstruktionen wie obige A(i) gar nicht möglich sind.

In der klassischen Mathematik wird das Auswahlaxiom bei Beweisen oft verwendet; man legt der klassischen Mathematik also eine Mengenlehre mit Auswahlaxiom zugrunde.