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Die Entwicklung des Zahlbegriffs beim Kind
(Jean Piaget)

   
 
 

Quelle:
Jean Piaget: Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, Suhrkamp Frankfurt, 1973, p.47ff.

http://de.wikipedia.org/wiki/Jean_Piaget
https://www.klett-cotta.de/buch/Psychologie/Die_Entwicklung_des_Zahlbegriffs_beim_Kinde/6701

 

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Piaget führte mit kleinen Kindern Experimente zur Entwicklung des Zahlbegriffs durch. Ein Beispiel:

Acht rote Marken werden in eine Reihe gelegt. Man fordert das Kind auf, aus einem Haufen mit blauen Marken gleich viele Marken zu entnehmen wie rote Marken auf dem Tisch liegen.

Auf einer ersten Stufe bildet das Kind aus den blauen Marken eine Reihe, die ungefähr gleich lang ist wie die rote Reihe, ohne auf die genaue Anzahl zu achten.

Auf einer nächsten Stufe legt es unter jede rote Marke eine blaue Marke. Es paart optisch je eine rote und eine blaue Marke.

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Nun wird vom Versuchsleiter z.B. die obere Reihe enger gelegt:

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Das Kind behauptet nun in einer bestimmten Entwicklungsphase, es seien unten mehr Marken vorhanden als oben. Selbst wenn man es zählen lässt und es beide Male auf acht kommt, wird es dies noch behaupten.

In einer späteren Phase wird es die sogenannte Erhaltung der Zahl (Mengenkonstanz) entwickelt haben, wo es nun unabhängig von der Ausdehnung sagen wird, dass beide Reihen gleich viele Marken enthalten: Geht die Stück-für-Stück-Zuordnung einmal auf, so bleibt die Anzahl gleich, auch wenn die Anordnung verändert wird.

Die Stück-für-Stück-Zuordnung scheint also wesentlich für den Zahlbegriff zu sein.

Dies genügt nach Piaget jedoch nicht. Wenn wir eine Menge von vier Bäumen und eine Menge von vier Personen haben, können wir jeder Person einen Baum zuordnen. Geht die Zuordnung auf, haben die Mengen gleich viele Elemente:
        

 

Die Zuordnung ist jedoch auf verschiedene Arten möglich:


Das heisst: Die Individualität jedes Elements (Baum, Person) wird ignoriert. Wir degradieren die Dinge zu einer blossen Zähleinheit, zu einem Zählstein. Damit haben wir jedoch bereits eine Zähleinheit, d.h. eine Eins, eingeführt:

Trotzdem müssen wir die nun gleich aussehenden Zählsteine voneinander unterscheiden können, damit wir beim Zuordnen einen bereits verwendeten Zählstein nicht nochmals auswählen.
Anders gesagt: Das Ausführen der Zuordnung, d.h. das Setzen der Zuordnungspfeile, verläuft hintereinander, Schritt für Schritt. Das ist jedoch nichts anderes als das Einführen einer Ordnung: erster Pfeil, zweiter Pfeil, usw.

Die Zahl, schliesst Piaget, ist eine Synthese aus Stück-für-Stück-Zuordnungen (dies führt zum Begriff der anzahlmässigen Gleichheit: eins, zwei, drei... - Kardinalzahl) und Ordnungsbeziehungen (schrittweises Vorgehen beim Zuordnen: erstens, zweitens, drittens... - Ordinalzahl). Die Zahlen stellen nicht nur eine Anzahl dar, sondern stehen auch in einer Reihenfolge.

Diesen Doppelaspekt - das Herstellen von Zuordnungen/Entsprechungen und das geordnete Hintereinander - findet Piaget auch vom frühesten Säuglingsalter an im Menschen:
Im Nachahmen entsprechen eigene Bewegungen den Bewegungen des Vorbildes (Gleichheit herstellen); gleichzeitig ist für jede Willensaktion ein geordneter Einsatz bestimmter Mittel nötig.

Eine Art „Prä-Mathematik“ entsteht also bereits in dieser vorsprachlichen Phase. Die Frage: „Wer hat die Mathematik erfunden?“ ist etwa so sinnlos wie die Frage: „Wer hat die menschliche Entwicklung erfunden?“. Piaget postuliert, dass prämathematische Fähigkeiten sich bereits vor der Ausbildung von Sprache zu entwickeln beginnen. Später befruchten und fördern sich natürlich dann der sprachliche und der mathematische Bereich gegenseitig.

 
 
 
 
 

Hinweise

Bei der Ausbildung des Zahlbegriffs spielen eventuell weitere Faktoren, die von Piaget noch nicht erkannt wurden, eine Rolle:

  • Eventuell spielt auch das reine Zählen (Zahlen aufsagen, Zählverse lernen) eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das Aufsagenkönnen einer Zahlreihe (eins, zwei, drei, ...) funktioniert ev. wie eine innere und deshalb jederzeit verfügbare Schablone, die für Stück-für-Stück-Zuordnungen verwendet werden kann.
  • Subitizing: Liegen nur wenige Objekte vor uns (im Bereich 1 bis 5), so erkennen wir die Anzahl ohne zu zählen auf einen Blick. Man denke etwa auch an die Punktmuster auf einem Spielwürfel. Kleine Zahlen erhalten so durch ein Punktmuster ein individuelles "Gesicht". Auch dieser Aspekt wurde von Piaget noch nicht beschrieben.
    Allerdings muss das Kleinkind auch das Subitizing zuerst erlernen. In einem ersten Stadium zählt es noch die einzelnen Punkte auf dem Spielwürfel; erst mit der Zeit erkennt es die Anzahl Punkte eines Musters sofort.
 

Eine gute Übersicht zu Piagets Sicht und zur heutigen Kritik an Piaget:

Kurt Reusser: Den Menschen vom Kind her verstehen. PDF.

 
 
 
 
 

Zur Kritik an Piaget

Kritisiert wird aus heutiger Sicht

  • die Methodik (die z.T. suggestiven Fragen, die kleine Auswahl an Probanden, die stillschweigende Annahme, dass das Kind eine gestellte Frage gleich versteht wie die Versuchsleiterin)
  • die These einer strikten Entwicklungs-Stufenfolge und die Ausrichtung der Forschungsdesigns auf Bestätigung dieser Hypothese hin (Fehlen von Designs, welche die These kritisch hinterfragen)
  • die Vernachlässigung anderer Lebensfaktoren (Umwelt, spielerisches, Milieu, Anregungen, Motivation, Lerneffekte, ...)
  • dass - wie andere Versuchsanordnungen zeigen - von vierjährigen Kindern in gewissen Situationen auch Strategien angewendet werden, die von Piaget nicht gesehen wurden oder die nach Piaget erst später auftreten dürften. Die Piaget-Phasen (wenn es sie in dieser Art denn auch wirklich gibt) durchmischen sich.

    Auch der Zahlbereich dürfte eine Rolle bei der verwendeten Strategie spielen; bei sehr kleinen Anzahlen können andere Strategien verwendet werden als bei grösseren Zahlbereichen (ein vierjähriges Kind kann hier beispielsweise bereits die Finger einsetzen und entscheiden, ob jemand mehr oder weniger Finger aufhält).
 

Was ist verdienstvoll und bedenkenswert an Piagets Forschung?

  • Auch wenn Piagets Begriffe der Assimilation und der Akkomodation sich nicht wissenschaftlich genau definieren lassen, sind sie doch für die Pädagogik von grosser Bedeutung. Bin ich mir als Lehrperson bewusst, dass meine Äusserungen bei jedem Menschen verschieden verarbeitet werden, muss ich diesem Umstand Rechnung tragen. Wissen wird nicht von der Lehrperson zu den Lernenden wie durch ein Datenkabel übertragen, sondern wird eher "induziert": Es löst individuelle Reaktionen aus.
  • Ich muss folglich aufs Individuum eingehen, verstehen, wie es assimiliert. Eine Erklärung allein wird oft nicht genügen; ich muss alternative Zugänge suchen und finden.
  • Ebenfalls muss ich darauf achten, wo Akkomodationen unumgänglich sind, wo falsche Vor-Meinungen im Wege stehen, die verändert werden müssen.
  • Dies alles geschieht nur, wenn im Unterricht individuelle Dialoge möglich sind.

Auch wenn Piagets Methoden aus heutiger Sicht nicht als wissenschaftlich völlig lupenrein gelten, können einige Kerngedanken doch hervorragende pädagogische Leitsterne sein.